Vom Fortschritt im Schneckentempo zum Rückschritt. Welche Zukunft hat Menschenrechtsschutz in Deutschland und der EU?
by MartinaWieviel Zeit kostbarer Regierungsarbeit hat das Bundesjustizministerium jetzt zur Verhinderung der EU Lieferketten Richtlinie (EU LK) eingesetzt? Der Presse nach war die FDP in letzter Zeit hoch aktiv dabei, um andere EU Mitglieder mit ihren Bedenken und Ablehnung mitzureißen. Motto, Bürokratiemonster und womöglich juristische Folgen die man der Wirtschaft ersparen wolle. Bedeutet dies, dass soziale Marktwirtschaft, vom FDP Generalsekretär so oft als freiheitliches Markenzeichen gepriesen, implizit nicht ohne millionenfache Kinder- und Zwangsarbeit, Löhne unter Lebensniveau oder extern produktionsverursachte Umweltschäden auskommt? Welche Folgen hätte dies eigentlich für die Zukunft von Menschenrechten und Umwelt, denen das EU LK gelten sollte?
Duckt sich Europa weg?
Ein Unglück für die Menschenrechte wie auch für Europas Wirtschaft und Demokratie in globalen Umbruchzeiten, so wird vielfach analysiert. Trotz ihrer Marktgröße mache sich die EU zunehmend zum „globalen Zwerg“. Hätte die lange vorher verhandelte Richtlinie doch „einen Wettbewerb liefern können, zwischen Zulieferern um die besten Umwelt- und Sozialstandards“ Aber: „Europa duckt sich weg“, so kommentierte der Journalist Michael Bauchmüller. (Süddeutsche Zeitung, 29.2.2024).
Wirtschaft gespalten
Einige Wirtschaftsverbände und Klientelpolitiker wollten es besser wissen als die community von großen Firmen, die sich bereits zusammen mit vielen Zulieferern zur Umsetzung des EU LK (im englischen Kürzel CSDDD) auf den Weg gemacht haben. Viele größere Unternehmen sind dabei, sich auch zum Wohl ihres eigenen globalen Rufes und der Nachhaltigkeit ihrer Wertschöpfungsketten auf den Schutz von Menschenrechten und Umwelt besser einzustellen. Nicht wenige entwickeln ein erweitertes Risikomanagement und teilen es mit ihren kleineren Zulieferern, um die Zukunftsfähigkeit auf europäischen und globalen Märkten für sich und ihre Kunden zu sichern. Gemeinsame Sektorinitiativen können den Prozess noch vereinfachen und auch helfen, Missstände anzugehen. Niemand will öffentlich Menschenrechtsverletzungen bezichtigt werden. Der Ruf nach Unternehmensverantwortung wird lauter, auch wenn diese seit Jahrzehnten durch UN, OECD und andere mulltilaterale Gremien schrittweise eingefordert wird.
In der Wirtschaft findet schon ein Umlernen statt, um Dialoge über ihre Wertschöpfungsketten mit anderen Beteiligten zu führen, so berichtete – schon vor dem Pyrrhussieg der Liberalen – das Deutsche Institut für Menschenrechte. Laut einer Umfrage von INSA wird eine EU-weite Richtlinie von 68 % der befragten Unternehmen unterstützt. Lediglich 18 Prozent sehen diese kritisch.
Politischer Schaden durch den „German Vote“
EU Mitglieder zweifelten längst an der deutschen Verlässlichkeit auf den letzten Metern, trotz längst durchlaufener EU Abstimmungen, nicht nur aber jetzt auch bei dem U LK. Die belgische Ratspräsidentschaft hatte einiges versucht, Kompromisse wurden gesucht. Doch nun ist der Fortschritt zum Schutz von Menschenrechten und Umwelt vorerst zum Stillstand gekommen, bewegt sich nicht einmal mehr im Schneckentempo (Kanzler Scholz vorher zu den EU LK). Kanzler Scholz hat seine Richtlinienkompetenz hierfür nicht eingesetzt. Und Scholz erhält dafür Empörung und Schelte auch aus anderen Weltregionen. Enttäuschung kommt aus Produktionsländern wie etwa Pakistan, wo Arbeitnehmer und auch Arbeitgeber europäische Vorgaben als Orientierung erwartet hätten.
Empörte Stimmen erreichen den Kanzler aus Brasilien – wo Scholz und seine Regierung doch wirtschaftliche Zusammenarbeit in Bereichen wie Klima, Rohstoffen, Energie-, Sozial- und Entwicklungspolitik ´auf Augenhöhe´ angehen wollten. In einer von vielen Organisationen unterzeichneten Erklärung werden die Bemühungen der deutschen Regierung anerkannt, bessere Praktiken von Unternehmen zu fördern, einschließlich der strategischen Partnerschaft 2023 zwischen Ministerien zur Förderung der wirtschaftlichen und sozial-ökologischen Entwicklung, dies mit Beteiligung repräsentativer Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen durch sozialen Dialog und Tarifverhandlungen. Dennoch sei die Verabschiedung der EU LK (CSDDD) “… unserer Ansicht nach eine Frage von Leben und Tod für unzählige Opfer von Unternehmensmissbrauch auf der ganzen Welt. Sie wird einen wichtigen Beitrag zur Abschaffung von Zwangsarbeit und anderen Menschenrechtsverletzungen in brasilianischen Betrieben leisten:
„We recognize the efforts of the German government to promote better practices by companies, including the 2023 strategic partnership established between the Brazilian Labor and Employment Ministry and the German Federal Ministry of Labor and Social Affairs to promote economic and socio-environmental development, with emphasis on the participation of representative organizations of workers and employers via social dialogue and collective bargaining. That being said, in our view CSDDD being approved is a life-or-death issue for countless victims of corporate abuse around the globe. It will be an important contributing factor to eradicate forced labor and others human rights violations in Brazilian farms.” – Brazilian Civil Society Organizations and Unions letter to Germany on the CSDDD vote
Multistakeholder Dialoge vor Ort – ein neues Markenzeichen für die Zukunft?
Nach dem Stillstand um das EU LK, welchen Stellenwert haben dann menschenrechtlich motivierte Zukünfte in Deutschland und der EU? Knallhart kalkuliertes Weiterso oder partnerschaftlich neues Denken? In Zeiten dynamischer ökonomischer, sozial und ökologischer Transformation werden neue Geschäftsmodelle und entsprechende politische Rahmenbedingungen gebraucht. Dialoge und Interessenausgleich vor Ort könnten doch ein neues Markenzeichen sein.